Dienstag, 4. August 2020

Mein Vogel

Was auch geschieht: die verheerte Welt
sinkt in die Dämmerung zurück,
einen Schlaftrunk halten ihr die Wälder bereit,
und vom Turm, den der Wächter verließ,
blicken ruhig und stet die Augen der Eule herab.

Was auch geschieht: du weißt Deine Zeit,
mein Vogel, nimm deinen Schleier
und fliegst durch den Nebel zu mir.

Wir äugen im Dunstkreis, den das Gelichter
bewohnt.
Du folgst meinem Wink, stößt hinaus
und wirbelst Gefieder und Fell -

Mein eisgrauer Schultergenoss, meine Waffe!
mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe!
Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von Dir.

Wenn auch im Nadeltanz unterm Baum
die Haut mir brennt
und der hüfthohe Strauch
mich mit würzigen Blättern versucht,
wenn meine Locke züngelt,
sich wiegt und nach Feuchte verzehrt,
stürzt mir der Sterneschutt
doch genau auf das Haar.

Wenn ich vom Rauch behelmt
wieder weiß, was geschieht,
mein Vogel, mein Beistand des Nachts,
wenn ich befeuert bin in der Nacht,
knistert's im dunklen Bestand,
und ich schlage den Funken aus mir.

Wenn ich befeuert bleib, wie ich bin
und vom Feuer geliebt,
bis das Harz aus den Stämmen tritt,
auf die Wunden träufelt und warm 
die Erde verspinnt,
(und wenn du mein Herz auch ausraubst
des Nachts,
mein Vogel auf Glauben und mein Vogel auf Treu!)

rückt jene Warte ins Licht,
die du, besänftigt,
in herrlicher Ruhe erfliegst - 
was auch geschieht.

Gedicht von Ingeborg Bachmann aus "Mitten im Leben" von Margot Käßmann, Juli 2020 Herder-Verlag Freiburg