Sonntag, 23. Februar 2014

Physico-Chemiker Gerhard Dickel

Artikel von Jürgen Wolfram in der SZ vom 28.11.2013 (gekürzte Fassung):
Als der Chemiker und Nobelpreisträger Otto Hahn Ende der Dreißiger Jahre drauf und dran war, die Kernspaltung zu entdecken, kam er für radiochemische Experimente auch nach München. Hahns spezielles Interesse galt einem gerade geglückten Versuch, mittels Thermodiffusion Chlor-Isotopen zu trennen. Am Institut für Physikalische Chemie war damit Gerhard Dickel betraut. Hahn soll sich dessen Verfahren genau angeschaut und dabei wichtige Erkenntnisse für seine eigene Forschung mit der Uran-Isotopentrennung gewonnen haben. "Die Kernenergie hat ihren Ursprung in München", sagt Dickel mit dem Selbstbewußtsein eines Wissenschaflers, der mithalf, die Welt gründlich zu verändern. Der Mann hat gerade seinen 100. Geburtstag gefeiert und - den Kopf noch immer voll von physikalischen Problemen, die ein Laie kaum versteht. Er doziert wie in besten Vorlesungszeiten über Rektifikationssäulen und Diffusionskolonnen, Massendefekte und Temperaturgradienten. Seine Präsenz beeindruckt jeden sehr, der ihn in seinem Haus an der Großhesseloher Karwendelstraße besucht.
Zu den Fassungslosen gehörte kürzlich Pullachs stellvertretender Bürgermeister Eduard Floß. "Ich habe gedacht, ich überbringe die Glückwünsche der Gemeinde einem Bettlägrigen, doch davon kann überhaupt keine Rede sein." Nein, kann nicht. Gerhard Dickel öffnet selbst die Tür, sucht konzentriert nach Unterlagen, kommt offensichtlich gut allein zurecht. Seine Frau ist vor 20 Jahren gestorben. "Ein Gärtner, eine Zugehfrau, mehr brauch' ich nicht", sagt er. Nach überstandener Darmkrebsoperation hat er sich einen Spezialstuhl zugelegt und ein Hörgerät. Aber als Greis fühlt sich der gebürtige Augsburger, der sich 1952 im Pullacher Norden niedergelassen hat, beileibe nicht.
          Der Besucher hat sein Gegenüber noch gar nicht richtig fixiert, da kommt er sich schon vor wie in einer Physik-Vorlesung ...
"Ja, ich habe gut gelebt", bilanziert der Hunderjährige. Und denkt nicht im Traum daran, diese Welt, die ihm so viele wissenschaftliche Herausforderungen und zahllose Begegnungen mit Grössen seines Metiers beschert hat, alsbald zu verlassen. Dazu ist er viel zu neugierig geblieben.