Sonntag, 19. Juni 2016

Der Kuss

Charly wohnt in einem dreistöckigen Haus in ruhiger Lage. Der Wohnungseingang führt in einen langen Gang mit mehreren Zimmern rechts und links. Es wohnen z.Z. vier Seniorinnen und drei Senioren in der WG (Wohngemeinschaft). Von der Mitte des Ganges geht ein großer Gemeinschaftsraum kreuzförmig ab. Er ist auf der rechten Seite mit einem langen Holztisch und zehn Stühlen ausgestattet. Ferner gibt es eine komplette Kücheneinrichtung mit allem, was man so in einer Küche braucht. Die Tür zum geräumigen Balkon ist im Sommer stets geöffnet.
In diese WG hat Charly kürzlich einen Freund und eine Freundin zu Kaffee und Kuchen eingeladen.
Er gibt gerne zu, dass er die jüngere Freundin seit Jahren sehr verehrt und sich geehrt fühlt, dass sie sich sein neues Zuhause anschauen möchte.
Sie geht mit ihm den Gang entlang und lässt sich erklären, wer in welchem Zimmer wohnt. Bei der Nachbarin, Frau S., angekommen, fragt Charly, ob er klingeln solle.
"Nicht", haucht die Freundin Charly ins Ohr, sie hat wohl eine Vorahnung. Er klingelt trotzdem, bis Frau S. die Tür öffnet.
Charly: " Frau S., ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich heute zwei Gäste habe."
Frau S. und die Freundin begrüßen einander. Dann begeben sich alle Drei in den Gemeinschaftsraum, wo der Freund schon am Tisch sitzt. Frau S. und die Freundin setzen sich ebenfalls an den Tisch. Unterdessen holt Charly die Thermoskanne mit dem Kaffee aus seinem Zimmer.
"Frau S., möchten Sie auch eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen haben?"
"Danke, ich trinke keinen Kaffee!"
Auf der Kuchenplatte liegen sechs Törtchen vom besten Konditor der Stadt. Frau S. tippt auf das attraktivste Stück.
"Darf ich das haben für meinen Freund, der hat nämlich heute Geburtstag!"
Charly blickt in die Runde und sagt:
"Ja bitte, holen Sie sich einen Teller!"
Frau S.: "Wollen Sie es ihm nicht bringen?, er würde sich sicherlich freuen!"
"Nein, nein! Das war ja Ihre Idee!"
Sie geht mit dem Törtchen in ihr Zimmer und kommt mit einem beschriebenen Stück Papier zurück, setzt sich an den Tisch.
"Darf ich Ihnen etwas Satirisches vorlesen?"
Ohne die Antwort abzuwarten beginnt sie vorzulesen. Nach einer Weile wird Charly nervös:
"Frau S., meine Gäste haben nicht viel Zeit mitgebracht und wir haben noch etwas Wichtiges zu besprechen!"
Frau S. lässt sich nicht beirren. Als sie fertig ist, atmet Charly auf. Da kommt Frau S. mit einem neuen Stück Papier an den Tisch zurück und beginnt erneut vorzulesen. Charly platzt der Kragen!
"Ich gehe jetzt erst mal und hole das Mineralwasser aus dem Zimmer!"
Als er zurück kommt, bietet er auch Frau S. ein Glas Wasser an. Aber sie lehnt ab. Stattdessen liest sie ihr Pamphlet zu Ende. Die Gäste haben inzwischen zwei Tassen Kaffee getrunken und die Törtchen fast vollständig aufgegessen. Frau S. erhebt sich, aber bevor sie geht, gibt sie Charly einen Kuss auf den Hinterkopf.
Die Freundin sarkastisch: "Das tut ihm sicherlich ganz gut!"
Dann ist Charly endlich mit seinen Gästen allein.